Gegen die in den letzten Jahren um sich greifende Demontage demokratischer Grundprinzipien in verschiedenen Staaten der Welt gibt es keine Impfung und auch keine rasch wirkenden Medikamente. Ein wichtiges, jedoch erst mittel- oder langfristig erfolgversprechendes Rezept ist hingegen politische Bildung. Man weiß aus vielen Studien, dass jene, die sich in der Politik besser auskennen weniger zu Verschwörungstheorien tendieren und der Demokratie mehr vertrauen als jene, die ihre Informationen nur aus Boulevardzeitungen, den sozialen Medien oder vom Stammtisch beziehen. Politische Bildung ist also ein zentraler Bestandteil unserer Demokratien, denn sie vermindert das Risiko, dass Bürger*innen allzu leicht den diversen autoritären Demagogen, Populisten und Extremisten, die in den letzten Jahren so zahlreich und allerorts nach Stimmen fischen, ins Netz gehen. Dies wissend und auf langjährigen Druck vieler Expert*innen hat die Politik vor einiger Zeit das Unterrichtsfach in den Schulen aufgewertet. So ist Politische Bildung ab dem 6. Schuljahr ein verpflichtendes Modul des Geschichtsunterrichts. Das ist gut und richtig, auch wenn sich manche ein eigenes Fach statt eines Moduls gewünscht hätten. Aber immerhin: Unterrichtsmaterialien, Didaktik, Kompetenzmodelle und Inhalte der Politische Bildung haben in Österreich zuletzt eine deutliche Verbesserung erfahren und werden ständig weiterentwickelt.

Dennoch gibt es weiterhin ein Problem. Und dieses lässt sich in einem anschaulichen Vergleich auf den Punkt bringen. Es besteht darin, dass die Schülerinnen und Schüler in Österreich immer noch weit mehr über den brutalen Eroberer und Feldherrn Alexander den Großen als über den Demokraten Perikles erfahren. Was hört man in der Schule nicht alles über Alexander, den alten Makedonier, über seine Erziehung durch Aristoteles, seine Schlachten und Keilereien wie jener bei Issos, über den gordischen Knoten, seinen Besuch bei Diogenes oder sogar den Schatten seines Pferdes. Im Vergleich dazu wird über Perikles, den demokratischen Staatsmann oder die Details der attischen Demokratie sehr wenig erzählt. Der erste und wichtigste Grund dafür ist wohl, dass die im Geschichtsunterricht vermittelten Kenntnisse auf ziemlich veralteten Traditionen der Geschichtswissenschaft beruhen, auf Herrschaftsgeschichte. Die herrschende Geschichtsschreibung ist die Geschichtsschreibung der Herrschenden, könnte man mit Marx anmerken, wäre alleine die Erwähnung seines Namens nicht für viele schon wieder eine Provokation. Nimmt man das Zitat ernst, so ist klar, dass die Demokratie im Nachteil ist, vielleicht weil sie manchen langweiliger, weniger blutig, weniger brutal und dadurch weniger unterhaltsam erscheinen mag. Sieht man sich die populärkulturelle Aufarbeitung geschichtlicher Ereignisse an, wird man dies bestätigt finden: Hollywood hat sich mit Alexander und anderen Brutalos weit lieber befasst als mit Perikles. Für die Theaterbühnen gilt dasselbe: Caligula oder MacBeth geben vermeintlich mehr her als Demokraten.

Die Liste der Beispiele, in denen sich die Vorliebe der Geschichtsschreibung und der literarischen oder filmischen Verarbeitung historischer Stoffe für Feldherrn, Diktatoren und Demagogen zeigt, ist lang. Das spiegelt sich leider im Geschichtsunterricht an den Schulen bis heute wider. Die Kinder und Jugendlichen erfahren nicht nur mehr über Alexander als über Perikles, sie erfahren auch weit mehr über Sissi als über Hertha Firnberg, weit mehr über Napoleon als über Jean-Jacques Rousseau, usw. Die Rolle der Frauen in der Aufklärung oder der Französischen Revolution wird weitgehend verschwiegen. Wer kennt schon Olympe de Gouges, die große Frauenrechtlerin, die unter der Guillotine endete, weil sie Robespierre zu gefährlich schien? Was wird von den Suffragetten in der Schule erzählt? Wer kennt österreichische Demokraten des 19. Jahrhunderts, der 1848er Revolution? Wohl kaum jemand, der nur durch den Geschichtsunterricht einer Schule ging, während alle über die Details im Leben des Kaisers Franz Josef lernen. Welches Geschichtsbuch greift die Rolle Michael Gaismairs, des Bauernrevolutionärs auf, der schon im frühen 16. Jahrhundert demokratische Forderungen stellte? Gleichzeitig kennen hierzulande alle Andreas Hofer, den konservativen „Freiheitskämpfer“, der gegen die Idee der Freiheit kämpfte. Erst wenn es um Zeitgeschichte geht, scheint die Sensibilität gegenüber ethischen Fragen, Menschenrechten, Demokratie auch im Unterricht größer zu sein. Die Beschäftigung mit dem Terror des Nationalsozialismus, dem Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg, hat in Österreichs Schulen allerdings lange auf sich warten lassen. Und sie müsste heute dringend in eine politische Bildung übergehen, die sich mit ähnlichen aktuellen ideologischen Ausrichtungen und gegenwärtigen Gefahren befasst.

Die Kritik am vorherrschenden Geschichtsunterricht und seinen Schwerpunkten sollte nicht als Spinnerei einiger detailverliebter Historiker oder Demokratieforscher abgetan werden. Sie zeigt nämlich, was unseren Kindern und Jugendlichen als wichtig und erzählenswert dargestellt wird. Das ist offenbar nicht die Geschichte der Demokratie, der Kampf darum oder die Gefahren, denen sie stets ausgesetzt war, sondern das ist leider viel öfter die Biographie eines heldenhaften Feldherrn, eines großen Kaisers oder Religionsführers. Und das hat selbstverständlich Konsequenzen auf das Geschichts- und Gesellschaftsbewusstsein der jungen Menschen. Dass politische Bildung dann als Modul zu dieser Art des Geschichtsunterrichts hinzugefügt wird, ist besser als nichts, aber es reicht nicht aus. Dabei geht es natürlich nicht um eine komplette Wende weg von der Herrschaftsgeschichte zur Demokratiegeschichte, sondern lediglich um eine bessere Balance. Dass jene Personen und Entwicklungen, die unsere heutige Welt prägten, auch dann von Bedeutung sind, wenn sie keine Demokraten waren, steht außer Zweifel. Dass didaktisch auf Unterhaltung, Spannung und sogar auf Thrill geachtet werden soll, um junge Menschen für Geschichte zu begeistern, ist sinnvoll. Aber ebenso nötig ist eine intensivere Erzählung über ungleiche Machtverhältnisse in der Geschichte der letzten Jahrtausende, über den Kampf für Freiheit und Gleichheit, für Gleichberechtigung der Geschlechter und die Rechte von Minderheiten. Ansonsten klafft zwischen den Inhalten des Geschichtsunterrichts und des Moduls Politische Bildung weiterhin eine eigenartige Lücke. Die Schüler*innen können dann als Erwachsene vielleicht von Alexanders Mätzchen und Spleens erzählen, aber wer auf welche Weise die Demokratie erkämpft, gefährdet oder gar zerstört hat, wissen sie nicht.