Politische Loyalität entsteht unter anderem durch Symbole wie Flaggen, Hymnen oder Feiertage. Alle Nationalstaaten dieser Welt haben sich solche Symbole gegeben. Und in vielen werden jene Tage gefeiert, die im nationalen Gedächtnis, für die nationale Identität eine besondere Rolle spielen. Dabei gibt es allerdings beachtliche Unterschiede zwischen den Staaten in Hinblick auf das, was konkret gefeiert wird. In Frankreich gedenkt man am 14. Juli dem Sturm auf die Bastille von 1789, dem Beginn der Französischen Revolution, die aus einer absolutistischen Monarchie eine Demokratie machen wollte, aufbauend auf deklarierten Menschen- und Bürgerrechten. Der 4. Juli in den USA ist der Erinnerung an die Unabhängigkeit von der britischen Krone gewidmet und somit der Unabhängigkeit von einer Fremdherrschaft und dem Beginn der demokratischen Staaten von Amerika. Die am 4. Juli 1776 ratifizierte Unabhängigkeitserklärung ist ein Dokument der Freiheit und der Demokratie. Auch die italienische Festa della Repubblica hat einen demokratischen Hintergrund, nämlich das Gedenken an das Referendum am 2. Juni 1946, in dem man sich für eine Republik anstelle einer Monarchie aussprach.
Andere europäische Staaten erinnern sich an ihren Nationalfeiertagen nur indirekt oder gar nicht an demokratische Ereignisse ihrer Geschichte. In Polen erinnert man am 11. November der Unabhängigkeit von Österreich, Preußen und Russland aus dem Jahre 1918 und dem Beginn der Zweiten Republik. In Österreich feiert man am 26. Oktober streng genommen das Inkrafttreten des Neutralitätsgesetzes; im Volksverständnis gilt das Gedenken eher der Unabhängigkeit von den Alliierten. Spanien feiert am 12. Oktober den Tag der Hispanidad, der auch als Kolumbus-Tag bezeichnet wird und an die große Geschichte spanischer Weltherrschaft erinnert. In Deutschland gedenkt man am 3. Oktober der deutschen Einheit von 1990.
Die Anlässe für Nationalfeiertage sind bunt und vielfältig. Sie erzählen einiges über das Selbstverständnis der Staaten und manchmal auch über ihren Bezug zur Demokratie. In vielen Fällen werden diese Tage mit Feierlichkeiten und Traditionen begangen, die zu einem kollektiven Bewusstsein führen und einen Gründungmoment der staatlichen Geschichte in die Gegenwart und Zukunft prolongieren. So wird tatsächlich mit jeder neuen Begehung des Feiertags von Generation zu Generation ein politischer Mythos weiter gegeben und manchmal auch neu interpretiert, der für die politische Kultur und das Demokratieverständnis der BürgerInnen von Bedeutung ist.
Im Bewusstsein über die Relevanz solcher Symbole hat sich auch die Europäische Union einen Feiertag gegeben, nämlich den 9. Mai – und zwar im Gedenken an die Schuman-Deklaration zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl 1950, die als Grundstein für die heutige EU gilt. Der damalige französische Außenminister nannte in seiner Rede den Frieden als wichtigstes Ziel eines gemeinsamen Europas. Aus der ansonsten eher sperrigen Ansprache ragen einige wenige Zitate hervor, die für einen europäischen Gründungsmythos taugen, darunter dieses: „Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische Anstrengungen, die der Größe der Bedrohung entsprechen.“ Insgesamt aber ist die Deklaration offenbar zu wenig pathetisch, um den Feierwillen der EuropäerInnen am 9. Mai zu beflügeln. Nicht nur deswegen ist der Europatag bis heute kein gesamteuropäisches Fest geworden. Dabei wäre es relativ einfach, den Tag mit mehr Symbolik zu versehen. Immerhin wird um den 9. Mai herum in den meisten europäischen Staaten dem Ende des Zweiten Weltkriegs und des Nazi-Regimes gedacht. Dass man dies nicht mit der Schuman-Rede kombinierte und zu einem großen europäischen Friedens- und Demokratiefest ausbaute, ist ein unverständliches Versäumnis der Union und ihrer Mitgliedstaaten. Unverständlich, aber nicht unveränderbar. In Anbetracht eines überall aufkeimenden autoritären und gegen Europa gerichteten Nationalismus sollte die EU dringend darüber nachdenken, wie man vor allem die jungen Menschen für sie gewinnen kann. Nicht über plumpen Populismus oder Moralappelle, sondern über Beteiligung und kluge, optimistische, aber geschichtsbewusste Symbolik.
Der 9. Mai könnte in allen europäischen Staaten als Europatag gefeiert werden, und zwar in einer Mischung aus Festakten, Musik, Kultur und demokratiepolitischem Gedenken. Jede größere Stadt könnte ein solches Fest ausrichten – und warum nicht mit Fördergeldern aus dem EU-Budget? Es wäre eine alljährliche Gelegenheit, EU-PolitikerInnen mit lokalen und regionalen AkteurInnen und v.a. BürgerInnen zusammenzubringen, Austauschprogramme zu fördern, europäische Persönlichkeiten aus allen Bereichen, Kultur, Sport, Zivilgesellschaft einzuladen und inklusiv über die Zukunft Europas zu diskutieren. Was es dazu braucht, wäre nur eines: Den Willen, Europa zu feiern solange es noch geht.