Das Corona-Virus hat dazu geführt, dass sich Albert Camus‘ Roman „Die Pest“ wieder besonders gut verkauft. Viele empfehlen das Buch als aufschlussreiche Lektüre über Epidemien und ihre gesellschaftlichen Folgen. Und tatsächlich: In diesem Roman steckt vieles, das uns gerade in diesen Tagen beschäftigt, von den Herausforderungen des alltäglichen Lebens, dem Kampf gegen die Zeit über die Ängste und das Leid bis hin zur Rolle der Religion und anderen echten oder vermeintlichen Hoffnungsspendern. Man kann es also problemlos als alleinstehendes Werk über eine sich ausbreitende Krankheit lesen und wird viel literarischen Gewinn daraus ziehen. Doch bei Camus geht es um noch viel mehr: Es geht um den Sinn des Lebens, um Revolte, Solidarität und Freiheit. Genau deshalb ist das Buch in der Tat weit über den Anlassfall des Corona-Virus hinaus relevant.
Verfasst hat es Camus in den 1940er Jahren. Er brauchte mehrere Jahre dafür. Veröffentlicht wurde es 1947 als erster Teil seines dreiteiligen Revolte-Zyklus. Zu diesem zählten Texte unterschiedlicher Gattungen über das Thema Revolte. In Die Pest bedient sich der spätere Literaturnobelpreisträger des Romans als Stilrichtung. Hinzu kommen der philosophische Essay Der Mensch in der Revolte und das Theaterstück Die Gerechten. Bereits zuvor hatte der Autor seinen ersten Zyklus veröffentlicht, jenen über die Absurdität. Zu diesem zählen als Roman Der Fremde, als philosophischer Essay Der Mythos des Sisyphos und als Theaterstück Caligula. Man könnte auch sagen, dass der erste Zyklus sich der Einsamkeit und der Fremdheit des Individuums widmete und der zweite der Frage nach der Solidarität dieses einsamen, fremden Individuums in der Gesellschaft. Der dritte Zyklus, den Camus über die Liebe verfassen wollte, blieb unvollendet, denn er starb bekanntermaßen 1960 in einem Autounfall. Zu wissen, dass Camus in Zyklen arbeitete hilft jedenfalls dabei, den Roman Die Pest besser einordnen zu können. Erst dann kann er seine gesamte Bedeutung für die Leser*innen entfalten.
Die Pest ist vordergründig die fiktive Geschichte der gleichnamigen Krankheit in der algerischen Stadt Oran. Camus beginnt mit einer ungenauen, aber doch eindeutigen Zeitangabe: „Die seltsamen Ereignisse, denen diese Chronik gewidmet ist, haben sich 194x in Oran abgespielt“. In den 1940er Jahren also spielt der Roman, woraus sich eine von mehreren Allegorien ableiten lässt, nämlich die Besatzung Frankreichs durch die Nazis. Camus, der selbst im Widerstand gegen das Hitler-Regime gekämpft hat, spielt ziemlich unmissverständlich auf ein totalitäres Regime an, das eine Gesellschaft okkupiert, tyrannisiert, in Angst und Schrecken versetzt, seiner Freiheit beraubt. Die Pest ist dieser Lesart entsprechend ein anderes Wort für die Nazi-Besatzung. Alle Fragen, die sich im Widerstand stellten, stellen sich auch in seinem Roman: Flüchten oder bleiben; sich fügen, hingeben, resignieren oder revoltieren; auf das eigene Glück schauen oder solidarisch bleiben und anderen helfen? All das und viel mehr wird in beeindruckenden Dialogen thematisiert. In einer der stärksten Passagen des Buches sagt der Journalist Rambert, zerrissen zwischen der Flucht zu seiner Geliebten und der Solidarität gegenüber den Bürger*innen der Stadt: „Rambert erklärte, (…) wenn er fortginge, müßte er sich schämen. Und das würde ihn in seiner Liebe zu der Wartenden stören. Aber Rieux richtete sich auf und sagte mit fester Stimme, das sei Blödsinn, man brauche sich nicht zu schämen, wenn man das Glück vorziehe. «Ja», sagte Rambert, «aber man kann sich schämen, allein glücklich zusein.»“ Diese Aussage untermauert die Idee der Solidarität, die sich damals wie heute angesichts von Krieg, Leid und Unterdrückung stellt. Sie hat viele Menschen inspiriert, unter anderem den Gründer der Flüchtlingsrettungsorganisation Cap Anamur, Rupert Neudeck. Als dieser für die vietnamesischen Boat People in den 1970er Jahren eine Hilfsaktion startete, drückte er seinen Mitarbeiter*innen Die Pest in die Hand. Neudeck bezeichnete das Buch als eine Art Bibel für humanitäre Arbeit. Eine Arbeit im Dienste der Schwächsten dieser Welt, im Dienste von geflüchteten Menschen, die alles verloren haben und nur ihr Überleben sichern wollen. Es ist schade, dass Camus‘ Werk erst jetzt in Anbetracht des Coronavirus in seiner profaneren und unmittelbareren Bedeutung wieder entdeckt wird. Es hätte genauso gut schon weit früher im Zuge der Tragödien im Mittelmeer hervorgekramt werden können.
Doch es gibt noch tiefergehende Lesarten des Romans. Wer den philosophischen Essay Der Mensch in der Revolte kennt, wird auf eine metaphysische Aussage stoßen und Die Pest als Allegorie auf das existenzielle Dilemma der Menschen verstehen. Ein Dilemma, das sich rund um die Frage dreht, die Camus bereits im philosophischen Essay des ersten Zyklus gestellt hatte, nämlich: Warum sollen wir in einer absurden Welt überhaupt weiterleben? In Die Pest wird diese Absurdität in all ihrer Tragik dargestellt. Camus lässt seine Hauptfigur Dr. Rieux in Anbetracht eines von der Pest befallenen Kindes zu einem fanatischen Priester sagen: „Ich werde mich bis in den Tod hinein weigern, die Schöpfung zu lieben, in der Kinder gemartert werden.“ Nur als absurd könne man eine solche Welt empfinden. Und doch: Der Kampf um das Leben jedes Kindes, jedes einzelnen Menschen ist der Grund zum Weiterleben. Diese Revolte versteht Camus zwar letztlich ebenso als absurd, aber nur sie rechtfertigt das Leben. Im philosophischen Essay Der Mensch in der Revolte heißt es daher: „Ich revoltiere, also sind wir.“ Die Revolte des Einzelnen gegen den Tod, gegen das menschliche Leid in all seinen Formen, gegen Krankheit, Krieg und Autoritarismus, begründet eine universelle Solidarität unter Menschen. Sie ist gleichermaßen ein Kampf um Freiheit und damit die Grundlage für Demokratie und Menschenrechte. Ja, in der Tat: Die Pest ist nicht nur ein Buch über eine Epidemie. Es ist ein Buch über globalen, kosmopolitischen Humanismus, gegen jede Form der Unterdrückung.
Camus erhielt 1957 den Literaturnobelpreis. Gerade in den letzten Monaten hätte man sich auch an seine Rede in Stockholm erinnern können, in der er über die Aufgabe eines Schriftstellers sagte: „Seiner Bestimmung gemäß kann er sich heute nicht in den Dienst derer stellen, die Geschichte machen: Er steht im Dienste derer, die sie erleiden. Andernfalls sieht er sich allein und seiner Kunst beraubt.“
Mehr zur politischen Relevanz von Albert Camus habe ich in dem Buch „Demokratie als Revolte. Zwischen Alltagsdiktatur und Globalisierung“ im NOMOS Verlag 2017 geschrieben.