In meinem Buch „Demokratie als Revolte“ beschreibe ich den demokratischen Urmoment als jenen Moment, in dem ein Mensch das erste Mal bewusst Nein zu Unterdrückung und Ungerechtigkeit sagt, sich der Autorität nicht beugt, sondern sich gegen diese zu Wehr setzt.
Camus beschreibt in Der Mensch in der Revolte, wie der Sklave sich eines Tages gegen seinen Herrn auflehnt und ihm die Stirn bietet. Er sagt Nein. Er weigert sich, unter Peitschenhieben gegen seinen eigenen Willen zu handeln. Und gleichzeitig sagt er damit Ja zu einem Teil seines Selbst, zu jenem Teil, der nach Freiheit und Autonomie strebt. Es ist dies der Beginn des Widerstands und Widerspruchs, der aus einem spontanen Gefühl der Unterdrückung heraus entsteht, einem Impuls, der den Menschen angesichts einer nicht länger ertragbaren Situation erfasst. Die Revolte beschreibt Camus mit dem Beispiel des Sklaven als eine Affekthandlung. Sie ist als Protest gegen unmittelbar empfundene materielle Unterdrückung und Ungerechtigkeit gedacht. Sie ist Reaktion und Antwort, und zwar negative Antwort auf Befehle und Gebote. Wer nicht schweigend oder gar zustimmend hinnimmt, was ihm aufgetragen wird, der stellt der Diktatur den Widerspruch und dem Monolog den Dialog entgegen, und zwar im Sinne jener Freiheit, die es einem erlaubt nicht tun zu müssen, was man nicht tun will.
Neben der affektiven Revolte gibt es aber auch die rational durchdachte Revolte. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich über das Spontane hinaus systematisch und häufig organisiert gegen Unterdrückung zur Wehr setzt. Sie ist politisch in dem Sinne, als sie versucht, die Gesellschaft in eine bestimmte Richtung hin zu verändern. Die Veränderung zielt dabei immer auf ein Mehr an Freiheit von Zwang und Unterdrückung ab, niemals aber auf einen utopischen Endzustand. Der Sklave, der aus einem Affekt heraus zum ersten Mal Nein gesagt hat und sich danach mit anderen zu einem Aufstand zusammentut, um die Sklaverei zu beenden, revoltiert auf Basis rationaler Erwägungen. Der Empörung über Ungerechtigkeit und Unterdrückung, dem ganz persönlichen Nein folgt ein organisierter Widerstand mit einem politischen Nein. Auch hier folgt der Verneinung notwendig eine Bejahung, nämlich die Bejahung der individuellen und gleichen Freiheit aller Individuen. Die Revolte ist zuerst immer Verneinung, Reaktion. In einer Welt ohne Unterdrückung wäre sie nicht existent. Niemand müsste revoltieren, um frei zu sein. In der Verneinung aber steckt die Bejahung einer anderen, freieren und gerechteren Welt. Auch um diese zu erreichen, braucht es die Revolte.
Die vielen historischen Kämpfe, die auf diese Weise für eine Emanzipation, eine Befreiung aus der unterdrückenden Gewalt, ausgetragen wurden und werden, reichen von den Sklavenaufständen der Antike über die Bauernkriege des Mittelalters, die Revolutionen der Aufklärung und Neuzeit, den Widerstand gegen Nationalsozialismus und Faschismus, bis hin zur 1968er Revolte, den Feminismus, die Anti-Globalisierungs-Demonstrationen und die Freiheitskämpfe der Gegenwart. Sie finden im großen, globalen Spiel der Politik ebenso statt wie im kleinsten familiären Kreise. Sie umfassen die Makroebene der Politik ebenso wie die Meso-Ebene der Organisationen, etwa der Unternehmen, des Bildungssystems oder der Kirchen und werden von unterschiedlichen Gruppierungen getragen, deren Rechte unterdrückt werden, die spontaner und struktureller Diskriminierung ausgesetzt sind, um deren Lebenschancen es schlecht bestellt ist.
Die in den 1960er Jahren in den USA und Westeuropa entstandene Zivilgesellschaft ist zu einer der Trägerinnen dieser rationalen Revolte geworden, die immer wieder auch von Intellektuellen und WissenschaftlerInnen untersützt wird. Zuletzt haben das Buch Empört Euch! des über 90jährigen Franzosen Stéphane Hessel (2011) sowie die Arbeiten prominenter Ökonomen wie des Nobelpreisträgers Joseph Stiglitz (Stiglitz 2014) zu Widerstand und Revolte aufgerufen, um den gegenwärtigen Freiheitseinschränkungen und Ungleichheiten entgegen zu wirken.
Häufig geht der politischen Revolte eine individuelle voraus, wie im Falle von Spartacus. Die individuelle muss aber nicht immer in die politische Revolte münden. Wer für sich selbst die Freiheit reklamiert, tut dies nicht notwendigerweise für die anderen. Er kann es auch sehr exklusiv für sich selber fordern, so wie es Tyrannen tun. Er kann sie auch nur für sich und seine Gruppe fordern, wie dies in der Oligarchie der Fall ist. Die Demokratie als politische Revolte hingegen setzt der individuellen Freiheit eine wichtige Grenze, nämlich die Freiheit der anderen. Wer letztere einschränkt, um die eigene ins Übermaß zu vermehren, verrät die Prinzipien der Revolte und der Demokratie. Der universale Anspruch, den die beiden in sich tragen, inkludiert alle Menschen. Daher kommt zum Freiheitsanspruch der Demokratie notwendigerweise ein Gleichheitsanspruch hinzu, denn es geht um die gleiche Ermöglichung von Freiheit. Die Freiheit des Individuums hat ihre Grenzen also dort, wo sie auf die Freiheit des Anderen stößt. Und mehr als das: Jeder Einzelne trägt Verantwortung für die gleiche Freiheit unter den Menschen. Camus hat dies in Die Pest literarisch dargestellt und in Der Mensch in der Revolte mit dem Prinzip „Ich revoltiere, also sind wir“ umschrieben.
Dem demokratischen Urmoment, der in vielen Lebenslagen vorkommen kann, folgt nicht immer eine Demokratisierung der sozialen und politischen Rahmenbedingungen. Oft wird die Revolte niedergeschlagen und im Keim erstickt. Manche demokratische Staaten der Gegenwart zeigen bereits autoritäre Züge auf, wollen alle Oppositionskräfte, Medien und Zivilgesellschaft einschränken und die Demokratie ersticken. Die Revolte ist daher in den letzten Jahren umso dringender geworden.